
Auch die andere Hälfte geht und denkt
Als «Kenner des Lebens» apostrophiert Wikipedia den französischen Philosophen Frédéric Gros. Er ist Autor von «Marcher, une philosophie». Mit viel Getöse beschreibt er darin, welche Bedeutung das Gehen und Wandern für grosse Denker wie Kant, Rousseau oder Nietzsche hatte. Man darf sich fragen, ob der Mann das Leben wirklich kennt – oder vielleicht doch nur die eine Hälfte? In seiner Untersuchung kommen nämlich ausschliesslich Männer vor. Eine Feuilletonistin hat dies zur Feststellung veranlasst, es bleibe unklar, ob Frauen nicht wandern oder nicht denken.
Sie tun beides, und zwar auf treffliche Weise. Die britische Literaturwissenschaftlerin Kerri Andrews zeigt das in ihrem Buch «Frauen, die wandern, sind nie allein» auf ebenso packende wie tiefgründige Weise. Sie stellt darin eine Reihe von Frauen vor, die schriftstellerisch tätig waren und einen wesentlichen Teil ihrer schöpferischen Kraft aus dem Gehen bezogen. Dabei gibt sie sowohl Einblick in deren Biografien als auch in ihre literarischen Werke, mit besonderem Fokus darauf, welche Bedeutung das Wandern für sie hatte. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Frauen, die den geschützten Bereich des häuslichen Lebens hinter sich liessen, um Landschaften zu durchstreifen und auf Berge zu steigen, früher nicht nur Misstrauen und Spott erregten, sondern sich auch Risiken aussetzten, von denen Männer kaum je betroffen waren. Trotz dieser Hürden gab es immer Frauen, die sich über solche Gefahren hinwegsetzten und zu wandern begannen – und auch darüber schrieben. Zu den frühen Beispielen, die Andrews präsentiert, gehören etwa Elizabeth Carter und Dorothy Wordsworth, die beide im 18. Jahrhundert geboren wurden.
Eine überaus eindrückliche Figur war Sarah Stoddart Hazlitt. Als Kollaborateurin ihres scheidungswilligen Ehegatten in einer scheidungsfeindlichen Epoche geriet sie in ein abgrundtiefes juristisches und moralisches Dilemma, dessen psychischen Implikationen sie sich erfolgreich durch geradezu monströse Wanderungen zu entziehen vermochte. Weil sie über ihre Touren akribisch Buch führte, weiss man, dass sie im Mai 1822 innert 8 Tagen insgesamt 170 Meilen (rund 270 Kilometer) zu Fuss zurücklegte. Die längste Etappe, die sie an einem dieser Tage bewältigte, mass über 50 Kilometer.
Das Kompendium über die wandernden Autorinnen (bzw. die schreibenden Wanderinnen) gibt aber nicht nur Einblick in berührende Schicksale, sondern vermittelt auch ungewöhnliche Zugänge zu Landschaften, zum Unterwegssein, ja zum Leben. Mögen auch allerlei Dandys das Flanieren aus männlicher Sicht in vielen Richtungen ausgelotet haben – erst Anaïs Nin vervollständigte es mit der weiblichen Perspektive. Und was Nan Shepherd über die Cairngorms in Schottland schrieb, übertrifft alles, was «grosse Denker» zuvor über Berge geäussert haben.